Die römische Straßenkreuzung Süchteln

Im Jahre 55 v. Chr. kam Julius Caesar mit seinen Truppen während des Bello Gallico in unsere Gegend und schlug die Germanen unter anderem auch auf der Gocher Heide vernichtend. In den folgenden Jahren ging er gegen die Menapier vor und seine Truppen steckten die Gehöfte und Dörfer in Brand und bemächtigten sich einer großen Menge Menschen und Vieh. Nach schweren Kriegsleiden mußten sich die Menapier 53 v.Chr. unterwerfen ( De Bello Gallico, 6. Buch, Kapitel 1-6 ); der ganze Niederrhein ( Germania Inferior ) kam unter die Herrschaft der Römer und der Rhein war von jetzt ab für mehr als 400 Jahre die östliche Grenze ihres gewaltigen Weltreiches. Wie Caesar berichtet, waren die Menapier die einzigen, die niemals des Friedens wegen mit ihm verhandelt hatten.

Die Siedlung Süchteln liegt an der Kreuzung zweier römischer Straßen. Die von Süden nach Norden verlaufende römische Reichsstraße zwischen Neuss ( Novaesium ) und dem an der Fernstraße gelegenen Straelen, führte mitten durch Süchteln und bildet heute den Verlauf der Düsseldorfer Straße und der innerstädtischen Hochstraße ( 1590 Steinstraße – 1744 Lange Straße – 1799 Grand Rue – 1868 Hauptstraße – heute Hochstraße ). Im Norden verlief diese Römerstraße über die heutige Grefrather Straße und die Heerbahn ( 1573 Herstraeß na Gryfraed – 1789 Herbann – 1867 Alter Weg von Grefrath – heute Grefrather Straße und Heerbahn ) nach Wankum und Straelen. Vom Süden her kam sie über Viersen ( Verlauf über die alte Süchtelner Landstraße und das Ninive ) und Mönchengladbach vom Kastell Neuss. Von Ost nach West führte eine von Krefeld-Gellep  ( Kastell Gelduba - bereits 69 n. Chr. von Tacitus erwähnt ) kommende Landstraße über Tönisvorst durch Süchteln und von hier aus „dor den Busch“ ( Dornbusch noch 1465 so genannt ), über Boisheim und Brüggen nach Roermond. Im Dornbusch wurde die Barionstraße im Jahre 1652 noch Herstraß und 1896 Heerstraße genannt.

Auf diesen Straßen marschierten die römischen Heere; hier zog auch in friedlichen Zeiten der römische Kaufmann seines Weges daher, um mit der eingesessenen Bevölkerung Handel zu treiben. Für den Personenverkehr benutzte man hauptsächlich zwei Wagentypen. Mit dem leichten, zweirädrigen „cisium“ schaffte man etwa fünfzig Kilometer am Tag. Die „reda“, ein schwerer Reisewagen mit vier Rädern war vergleichsweise komfortabel; man konnte sogar darin schlafen, dafür war er deutlich langsamer. Bei den Lastwagen gab es „plaustra“, leichte Transporter, und „saccariae“, große Karren mit massiven Scheibenrädern. Sie konnten bis zu 500 Kilogramm laden und wurden meist von Ochsen gezogen. Schneller war, wer zu Pferd reiste, die Postreiter schafften etwa 75 Kilometer am Tag, nur Eilboten des Senats waren noch schneller. Sie ritten nonstop und legten manchmal in 24 Stunden bis zu 200 Kilometer zurück. Aber auch die römischen Legionäre mußten während der Grundausbildung regelmäßig Märsche von bis zu 36 km in 5 Stunden absolvieren und im Ausnahmefall sind sogar Gewaltmärsche ganzer Legionen ( wie in der Schlacht gegen Vercingetorix - 75 km in 28 Stunden ) möglich gewesen.

Betrachtet man dazu die Lage Süchtelns und die geringen Entfernungen zu den römischen Kastellen, Lagern und Städten der Umgebung, dann läßt dies den Schluß zu, daß hier ein wichtiger Verkehrspunkt der Region lag. Entfernungen von Süchteln nach: Kastell Gelduba 17 km ( Krefeld ) - Kastell Novaesium 31 km ( Neuss ) - Kastell Menapii 21 km ( Kessel ) - Colonia Claudia Ara Agrippinensium 68 km
( Köln ) - Sablones 23 km ( Straelen ) - Colonia Ulpia Traiana 49 km ( Xanten ) - Kastell Durmomagus 48 km ( Dormagen ) - Pont 30 km ( Geldern ) -
Kastell Asciburgium 32 km ( Moers Asberg ), Iuliacum 49 km ( Jülich ).

Der Verlauf der beiden römischen Reichsstraßen ( gestrichelte Linien ) zeigt die zentrale Lage der Straßenkreuzung Süchteln in Germania Inferior zur Zeit der römischen Besatzung.

In der Umgebung der Stadt Süchteln sind einige Funde aus römischer Zeit bekannt. So fand man am Hagenbroicher Weg die Fundamente einer Villa Rustica aus dem späten 2. Jahrhundert. Östlich der alten Heerstraße Süchteln–Grefrath sind Streufunde römischer Keramik belegt und in der Gindt ( Umgebung Höhenstraße ) wird im 19. Jahrhundert, bei Ausschachtungsarbeiten auf dem Dohrhofe, der Fund eines römischen Stein-Sarkophages mit Körperbestattung und Waffenbeigaben, vermutlich aus dem 4. Jahrhundert, beschrieben.

Die Zeitung ( VZ 213 ) berichtete am 18.Sept.1901 in der Rubrik Lokales kurz über den spektakulären Fund.

In den mehr als 400 Jahren römischer Herrschaft am Niederrhein brachten die Besatzer auch ihre Bräuche und Götter zu uns. Da ihnen Straßenkreuzungen, genauso wie Quellen und Anhöhen heilig waren und Süchteln mit der bereits in vorrömischer Zeit bekannten Verehrungsstätte der Heel, an der Quelle auf dem Helderberg, über alle drei Voraussetzungen für ein Heiligtum verfügte, ist es möglich, daß die hiesigen Römer im Ortskern an der Straßenkreuzung eine Gedenkstätte errichteten. An ihrer Stelle bauten die Christen dann später ihre Kirche. In der frühchristlichen Zeit wurden die Kirchen, so wie auch St.Clemens, nach Osten ausgerichtet, was den seltsamen Winkel des Gebäudes zur ( römischen ) Hochstraße erklärt. Da dies aber bislang durch keinerlei Funde belegt wurde, bleibt es vorerst nur eine Theorie. Jedoch weist meines Erachtens auch die Form der Stadt Süchteln ( in der Regel als oval beschrieben, in den Grundzügen allerdings rechteckig ) und die Ausmaße des Stadtkerns ( N-S 375 m und W-O 235 m ) auf ihren Ursprung als ein römisches Auxiliar-Lager aus der Besatzungszeit 55 v.Chr. - 350 n.Chr. hin.
Quot erat demonstrandum !

Legt man den Plan eines römischen Feldlagers ( Beispiel Haltern ) über den Süchtelner Ortskern ( um 1800 ), entdeckt man auffällige Parallelen. Unter anderem befand sich der römische Tempelbezirk im Lager dort, wo in Süchteln heute noch St.Clemens steht.

Ebenso erkennt man an der gestrichelten Linie, daß manche ( ehemaligen ) Lager im Laufe der Zeit, durch Besiedelung vor den Toren, eine Ausdehnung entlang der Hauptverkehrsstraße erfuhren. Die auf der Karte oben „außerhalb“ gelegene Gebrandstraße (1) heißt noch im Jahre 1583 „Gemeine Neue Bürgerstraße“ und gehört somit also nicht zu den ursprünglichen „alten Bürgerstraßen“. Sie ist noch im Stadtkern von 1800 die einzige Straße, die nicht wie alle anderen gerade, sondern in einem Bogen verläuft. Meines Erachtens weist sie durch ihren Verlauf auf die erste „Ausbaustufe” des Lagers hin. Die zweite Stadterweiterung der Siedlung schließt dann die Gebäude mit ein, die nördlich (2) und nord-westlich der Gebrandstraße gebaut wurden, wodurch der Stadtkern, wie wir ihn in seiner Form noch um 1800 kennen, entstanden ist. Im Osten ist die Auswölbung des Stadtwalls durch die 1626 entstandene Zehntscheune (3) bedingt. Im Süden lag das Viersener Tor nicht genau an der Stelle, wo der Ost- und der Westring zusammentreffen, sondern da, wo auch das südliche Stadttor des Lagers Haltern lag. Das bezeugt, allein durch ihren Namen, die noch in der 60er Jahren des 20. Jahrhunderts bekannte Süchtelner Gaststätte (4) „Am Brunnen vor dem Tore“.

Dazu im Gegensatz ein Ortskern, der, wie bei vielen Städten am Niederrhein, rund um die örtliche Pfarrkirche herum entstanden ist ( Beispiel Kempen ) und somit wohl erst in nachrömischer, christlicher Zeit seine Wurzeln hat.

Noch ein Vergleich: Der Tempel in Xanten ( Colonia Ulpia Traiana ) lag ebenfalls ( wie im Lager Haltern ) an der gleichen Stelle der Stadt, an der sich die Süchtelner Pfarrkirche St.Clemens befindet.

In der Schenkungsurkunde der heiligen Irmgardis an die Abtei St. Pantaleon aus dem 11. Jahrhundert werden neben mehreren Joch Bruchland bei Süchteln auch einige Weinberge erwähnt. Noch bis ins 19. Jahrhundert wurde auf den Süchtelner Höhen Wein angebaut. Dies geht aus alten Schriften hervor, die belegen, dass es häufig Streit um diese Weinberge gab mit den Herren aus Bocholt, die einen Anspruch auf das Gelände am Windberg zu haben glaubten.

Zwei ähnlich aussehende „ große Weinkrüge, wie diese aus der Bibel durch die Hochzeit zu Kanaan bekannt sind “ befanden sich 1930 im Besitz des Heimatmuseums Süchteln.

Die Süchtelner Höhen nahmen aber auch aus strategischer Sicht eine wichtige Stellung ein, da es im weiteren Umland keine höheren Erhebungen gab und bei gutem Wetter konnte man von hier oben aus mit bloßem Auge bis zur östlichen römischen Reichsgrenze ( bis zum Rhein sind es von hier aus nur knapp 15 km ) schauen und anrückende Gegner frühzeitig erkennen. Die vorgelagerten sumpfigen Niersauen boten einen weiteren Schutz gegen einfallende Germanen, sodaß das Lager an der Straßenkreuzung Süchteln strategisch gesehen, den hier lebenden Römern, möglichst großen Schutz bot. Seit den 1980er Jahren wurden bei Bodenprospektionen in Viersen eine Reihe neuer Fundstellen aus römischer Zeit entdeckt. Allein rings um die Straßenkreuzung Süchteln sind inzwischen 10 Siedlungsstellen ( Villa Rustica ) belegt, während man auf dem Gebiet Alt-Viersens und Dülkens deutlich weniger Siedlungsspuren, dafür aber vermehrt Einzelgräber und sogar ganze Gräberfelder nachweisen konnte. Die Römer bestatteten ihre Toten nie innerhalb ihrer Ortschaft, sondern in der Regel an den Ausfallstraßen rings um ihre Ansiedlungen und Städte.

Fundstellen römischer Siedlungstätigkeit rings um den Süchtelner Ortskern

Einen weiteren Hinweis auf umfangreiche römische Siedlungstätigkeit im Bereich Süchtelns könnte ggfls. die bekannte Irmgardislegende liefern:

[...] Drum sollen sie verschwinden, die stolzen Burgen all',
So weit im Tal ertönet Bergglöckleins reiner Schall!"

Was droben einst gesprochen der jungfräuliche Mund
Vor vielen hundert Jahren, das macht die Sage kund:
Die Burgen sind zerfallen, - das Glöcklein schallet hoch,
Das Brünnlein fließet helle, das Kirchlein stehet noch!

Die mittelalterlichen Menschen bezeichneten als „Burg“ alle aus Stein gebauten Häuser. Die vor den Römer hier lebenden Menapier und Eburonen bauten genauso, wie die nach den Römern hier ansässigen Franken, ihre Häuser im Fachwerkbaustil mit Holzgerüsten und Lehmwänden. Solche Fachwerkbauten boten vor allem bei Erdbeben einen erheblichen Vorteil gegenüber starren römischen Steinbauten. Um das Jahr 800 n.Chr. wurde unsere Gegend nämlich von einem schweren Erdbeben erschüttert, bei dem evtl. alle hier vorhandenen römischen Burgen ( Steinbauten ) zerstört wurden. Die Erinnerung daran ( und die damals vielleicht noch teilweise vorhandenen Ruinen ) könnten bei der Entstehung der Irmgardislegende im frühen Mittelalter, mit der überlieferten Geschichte der frommen Einsiedlerin, zusammengeflossen und in Verbindung gebracht worden sein.

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